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70 Jahre Grundgesetz: Wo war das Volk? 

Quellen:   Norbert Haering - norberthaering.de   

Dieser Beitrag ist eine Zusammenfassung o.g. Quelle mit Anmerkungen von Recht-Freiheit. 

Den vollen Beitrag können Sie nachlesen unter :  http://norberthaering.de/de/27-german/news/1179-grundgesetz


"70 Jahre Grundgesetz, ein Anlass zum Feiern oder doch eher zum Grübeln?" 


Nur noch 70 von 146 Artikel des Grundgesetzes (GG) haben den Wortlaut von 1949. Die Mehrheit der Artikel wurde in insgesamt 62 Änderungsgesetzen in den vergangenen 70 Jahren geändert. Der Textumfang hat sich verdoppelt. 

Ist in einem einzigen Fall das Volk befragt worden?

Ist das GG 1949 durch Volksabstimmung erlassen worden? 

Ist die deutsche Wiedervereinigung mit einer neuen gesamtdeutschen Verfassung per Volksabstimmung besiegelt worden? 


Wenn für das Inkraftsetzen des GG ohne Volksabstimmung die Verhinderung einer Verfestigung der Spaltung Deutschlands geltend gemacht wurde, hätte dann die Überwindung dieser Spaltung 1990 nicht umso mehr eine durch Volksabstimmung verabschiedete Einheitsverfassung benötigt? 

Die siebzigjährige Abwesenheit des Volkes als direkter Entscheider bei Gesetzes- und Verfassungsfragen lässt im öffentlichen wie auch akademischen Diskurs mehr und mehr das in der Zeit der Aufklärung von Kant und Rousseau entwickelte Konzept der Volkssouveräntität verblassen. 

Volkssouveränität heißt Gesetzgebung des Volkes und zwar gerade auch in Verfassungsfragen


Das Volk schafft sich seine Verfassung, die ihm gehört und nicht seinen Vertretern oder gar der Justiz. Dass gewählte Vertreter im Bundestag Entscheidungen treffen sollen, ist unstrittig. 

Dass aber diese Vertreter unter Mitwirkung der Justiz das Volk über Jahrzehnte von der direkten Gesetzgebung ausschließen, ist eine skandalöse Missachtung von Volkssouveränität. 

Die vor 100 Jahren verabschiedete Weimarer Reichsverfassung war bezüglich sachunmittebarer Demokratie dem GG erkennbar voraus. 

Sie beinhaltete Verfahren von Volksabstimmungen sowohl für einfache Gesetze als auch Verfassungsänderungen. Das GG von 1949 ist diesbezüglich ein klarer Rückschritt. Statt dem demokratischen Souverän (dem Volk) wurde die Verfassung bis heute mehr und mehr einer Verfassungsgerichtsbarkeit in Gestalt des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) überantwortet, welches in der Öffentlichkeit als eine Art heilige Instanz, Gralshüter der Verfassung wahrgenommen wird. (...)


Anmerkung von Recht-Freiheit : Hier die Unterschiede zwischen beiden Verfassungen  in einem Organigramm übersichtlich dargestellt.


Insbesondere ab Mitte der 1950er Jahre weitete das BVerfG ganz im Geiste Schmitts seine ursprünglich nur auf Verfahrensfragen der Verfassung beschränkte Zuständigkeit auf inhaltlichsachliche Belange, insbesondere den Grundrechtsteil der Verfassung aus, um sich schließlich zum unbeschränkten Interpreten des GG, auch über dessen Wortlaut hinaus zu erheben. 

Statt wichtige gesellschaftliche Fragen durch demokratische Prozesse zu klären, werden sie dem Votum weniger Richter unterworfen, welche zum "Vormund demokratischer Gesetzgebung" mutieren

Nicht etwa eine im Vorfeld von Entscheidungen konsultierte Bürgerversammlung wie in Irland 2013, nicht eine optionale Überprüfung von Bundestagsgesetzen durch Volksabstimmungen, nicht eine obligatorische Bestätigung von Verfassungsänderungen durch Volksabstimmungen stellen auf demokratischen Weg Verfassungsmäßigkeit her, sondern die finale juristische GG-Auslegung des BVerfG. Justiz statt Demokratie. Das produziert Justizgläubigkeit, die "Erwartungen an Gerichte an die Stelle eigener staatbürgerlicher Aktivität treten lässt".

Entgegen diesem systemischen Zwang befürworten bei einer jüngst aus Anlass des Grundgesetzjubiläums in Auftrag gegebenen Umfrage (wie schon frühere) 75% der Befragten bei wichtigen bundespolitischen Fragen Volksabstimmungen. 


Was Verfassungsgerichtsbarkeit konkret bedeuten kann, sei kurz an einem Urteil des BVerfG von 1994 aufgezeigt: 

Das Gericht sollte darüber befinden, ob die damaligen ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr verfassungsgemäß seien. 

Vier Verfassungsrichter leiteten, als würden sie jenseits der Verfassung agieren, durch bloße Interpretation und Behauptung (die Nato sei ein System kollektiver Sicherheit) entgegen völkerrechtlicher Definitionen und dem Gebot der Texttreue eine Bejahung aus dem GG ab. 

Per bloßen Gerichtsurteil erfolgte so die Umwidmung der Bundeswehr von der bisherigen "Verteidigung" laut GG, zur späteren Angriffsarmee im Rahmen der Nato (Kosovokrieg). Richterliche Rechtsfindung, also juristische Konstruktion allein wendete die bis dahin unter dem Friedensgebot des GG stehende Militäragenda Deutschlands in ihr komplettes Gegenteil, ohne dass das Volk bei der existenziellen Frage von Krieg und Frieden irgendeine Möglichkeit der Entscheidung hat. Ist das Demokratie? Der demokratische Weg wäre die Beibehaltung bisheriger Rechtssprechung durch das BVerfG gewesen (keine Auslandseinsätze), in Verbindung mit dem Hinweis an Regierung und Gesetzgeber, die angestrebte Legitimation für Auslandseinsätze durch eine klärende GGÄnderung, also Rechtssetzung selbst herzustellen.


Diese wie auch jede andere Verfassungsänderung müsste jedoch zusätzlich einem obligatorischen Verfassungsreferendum unterworfen werden. 


So wie es in der Schweiz (seit 1848), Australien (1901), Dänemark (1915), Irland (1937), Frankreich (1958, Umgehung möglich), in fast allen Bundesstaaten der USA (Maine bereits seit 1816, Mississippi seit 1817) und den Bundesländern Bayern und Hessen für Verfassungsänderungen zwingend vorgeschrieben ist. 

Die angeblich im GG festgelegte ausschließlich repräsentative Demokratie befeuert zwangsläufig den Drang zur Justizanrufung durch Opposition oder außerparlamentarische Kräfte


So kann die 2016 vom Bundestag trotz gegenteiliger Meinungsumfragen beschlossene Kriminalisierung von Sterbehilfeorganisationen in keiner Volksabstimmung überprüft werden. Das Gesetzgebungsverfahren unterlag vorab auch keiner Beratung durch einen etwaigen per Losverfahren bestimmten Bürgerrat.  Kritikern des Gesetzes bleibt statt eines gesetzlich geregelten demokratischen Verfahrens einzig der juristische Weg zum BVerfG. 

Das Thema Sterbehilfeorganisationen ist aber zuallererst durch Mehrheiten in der Bevölkerung und nicht durch Verfassungsinterpretation zu klären. 


Anmerkung von Recht-Freiheit : Dasselbe sollte gelten für grundsätzliche Gesetzesentscheidungen wie beispielsweise:

- Thema Abtreibungen, Werbeverbot, etc. 

- EU Integration / Übertragung von Hoheitsrechten an die EU

- Umwandlung Deutschlands in einen Vielvölkerstaat / Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsgesetze

usw. usw.

Ein unglaubliches Beispiel zu diesem Thema ist eine Urteilsbegründung OLG Koblenz vom 14.2.2017

In der Urteilsbegründung steht unter Gründen, Pkt 58 : 

"(...) zwar hat sich der Betroffene durch seine unerlaubte Einreise in die Bundesrepublik  nach §§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 1, 2 AufenthG strafbar gemacht. Denn er kann sich weder auf § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG noch auf § 95 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 31 Abs. 1 GFK berufen. 

Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt."   Urteil


Infolge der gegenwärtigen Stellung der "Justiz als gesellschaftliches Über-Ich" sehen sich viele Organisationen der Zivilgesellschaft wie auch Einzelpersonen gezwungen, ihre Anliegen bevorzugt auf juristischem Wege statt in demokratischen Verfahren zu verfolgen, bzw. werden Organisationen ausschließlich zum Zweck juristischer Aktivität gegründet. 


Infolgedessen werden Gerichte viel zu oft für Demokratie an sich gehalten, sie dienen aber nur deren rechtsstaatlicher Durchsetzung. 


Das Fehlen politikberatender Bürgerräte, die Versagung von Volksabstimmungen auf Bundesebene minimieren unter dem Diktum ausgeprägter Verfassungsgerichtsbarkeit des BVerfG demokratische Verständigungsmöglichkeiten der Gesellschaft und lassen unnötig Gerichte anstelle des Volkes entscheiden


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